Freie, Freelancer, Freaks: Selbstständigentag 2019
Gehör verschaffen – und zwar denen, die nicht der Startup-Welt mit ihren finanzstarken Investoren angehören, sondern zum Beispiel als (Solo-)Selbstständige oder Freiberufler einfach nur frei, selbstbestimmt, anders arbeiten und #selbstwasmachen wollen: Das ist das Anliegen von Catharina Bruns, die aus diesem Grund mit der Kontist Stiftung den Selbstständigentag 2019 im Spreespeicher in Berlin veranstaltet hat.
„Diese Ausrichtung gefällt mir“, berichtet Teilnehmerin Carla Emrich. „Man bekommt auch andere Gesichter auf der Bühne zu sehen, vor allem Frauen: Es sind nicht dieselben Speaker wie sonst bei Events in Berlin. Gut, um aus der Bubble herauszukommen.“ Und auch die Mischung gefällt ihr: „Es sind lockere, junge Menschen hier und auch ältere Anzugträger.“
Als Gans unter Gänsen und nicht auf der Pferdekoppel
Ähnlich begeistert ist Hellmuth Kohlmann, der als Franke genau solch ein Format gesucht hat. „Ich liebe Berlin und bin hierhingekommen, um ein Forum für Selbstständige zu finden. Und dieses bietet genau das Flair und die Energie, die ich mir wünsche, um in der Kurskorrektur, die ich in meinem Business gerade vornehme, bestätigt zu werden.“ Insofern, sagt er, fühlt er sich „wie eine Gans unter Gänsen und nicht auf einer Pferdekoppel.“
Konkret nimmt er mit, nicht immer sein Licht unter den Scheffel zu stellen und selbstbewusst nach außen zu tragen: Das bin ich, das kann ich und das ist gut so. „Man muss nicht alles mitmachen und sollte sich stattdessen das heraussuchen, was zu einem passt und eine gewisse Naivität bewahren, wenn eine Reise ins Ungewisse ansteht.“ Was jede Gründung eben mit sich bringt …
Stähler: „Finden Sie, was zu Ihren Werten passt“
Schauen, was zu einem passt – das ist auch die Message von Dr. Patrick Stähler, der seinen Impulsvortrag zur Eröffnung hält. „Als Selbstständiger braucht man nicht viele Kunden und muss im Gegensatz zu klassischen Unternehmen auch nicht groß werden. D i e Chance, sich mit einer klaren Positionierung von anderen abzuheben“, verdeutlicht Stähler. Vor allem aber gibt er diesen Ratschlag mit: „Bleiben Sie Sie selbst. Überlegen Sie, was Sie nicht wollen und finden Sie, was Ihnen leichtfällt und zu Ihren Werten passt.“ Damit einher geht auch, entsprechende Kunden zu finden.
Und das ist, was mir an dem Event besonders gefällt: Dass es sich mit der notwendigen Selbstreflexion vor einer Selbstständigkeit beschäftigt und der Frage, mit welcher Ausrichtung Gründer in Resonanz gehen, welche Strategie stimmig für sie ist. Im Vergleich zu anderen Gründerveranstaltungen ist das neuartig und hat mich 2018 auch dazu bewogen, mein Buch „Ohne Zweifel selbstständig“ zu schreiben.
Kliemann: Nur noch Kaminfeuer und Katze streicheln
Den größten Applaus des Tages heimst der Hauptact ein: Fynn Kliemann („Kliemannsland“), der als Tausendsassa, oft „aus Versehen“, so viele Projekte gestemmt hat, dass es zeitweise fast schon unglaubwürdig erscheint. Dabei laufe beileibe nicht immer alles glatt. „Ich scheitere eine Million Mal“, bekräftigt Kliemann, der von Markenrechtstreits oder Schwierigkeiten mit Zahlungen erzählt. „Doch ich mache so lange weiter, bis ich es geschafft habe. Deshalb habe ich Erfolg.“
Kliemann ist ein Paradebeispiel dafür, was Stähler in seinem Vortrag als Freak-Faktor bezeichnet. Eine Qualität, die Selbstständige auszeichnet, weil sie für ihre Sache brennen. „Ich habe nie etwas gemacht, das ich nicht fühle. Ihr solltet weniger darauf hören, was andere sagen“, rät Kliemann, der vor kurzem einen Hörsturz erlitten hat. „Da war nur noch Kaminfeuer und Katze streicheln angesagt.“ Vielleicht kommt es auch daher, dass er – wie er selbst beteuert – arbeitet, bis er nicht mehr kann und sich gerade eine Mittagspause angewöhnen möchte.
Faulheit und der höchste Grad von Freiheit
Es ist eine sehr entspannte, lockere und komprimierte Veranstaltung – mit einem kleinen, versteckten Büchertisch, einem Ausstellerbereich im Eingangsraum sowie einem zweiten Konferenzraum (Event Loft) abseits der Hauptbühne. Auf einen sehr witzigen Vortrag von „Pitch-Doktor“ Christoph Sollich, dessen Folien so schnell wechseln, dass sie kaum zu fotografieren sind, folgt das Thema Tod und der adäquate Umgang damit. „Ein harter Bruch“, wie Speakerin Anemone Zeim konstatiert. Für sie bedeutet „der höchste Grad von Freiheit“, ihren Kunden manchmal sagen zu können: „Ich glaube, das Produkt brauchen Sie gar nicht.“ Wohlgemerkt: Produkte aus ihrem eigenen Sortiment.
Auch sie darf sich – im positiven Sinne – als Freak bezeichnen. Von der freien Werbetexterin und Freelancerin hat sie sich entgegen aller kritischen Stimmen zur Trauerbegleiterin („Vergissmeinnie“) und Entrepreneurin gewandelt: „Es war für mich keine Option, dass das nicht funktioniert.“ Früher habe sie bei sich eine Faulheit verspürt. Diese wertet sie heute als Zeichen von Widerstand. „Und das hat einen Grund.“ Wenn sie dagegen genau das tue, was ihr Spaß macht, könne sie sich schon mal zehn Stunden am Stück für ihre Arbeit einsperren.
Politikdebatte mit besonderer Energie
Doch auch die „harten“ Themen kommen zur Sprache: So debattiert eine Politikerrunde über atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Scheinselbstständigkeit und Statusfeststellungsverfahren, Altersvorsorge und Rentenversicherung. Sorgen eines Teilnehmers, dass diese Runde zu dröge werden könne, bestätigen sich nicht – alleine aufgrund der teilnehmenden Veranstalterin, die mit viel Nachdruck als Vertreterin der Selbstständigen unter anderem für eine Novellierung der Rentenversicherung kämpft.
Catharina Bruns gehört dann auch das Schlusswort des Abends, der ausklingt mit einer unter DJ-Musik begleiteten Weihnachtsfeier, die Selbstständige sonst ja gewöhnlich nicht haben. „Ich glaube, die Stimmung war gut und ich hoffe, ihr hattet viel Spaß und gute Gespräche für euren unternehmerischen Erfolg. Wenn ihr Bock habt und es soll was werden, dann heißt es: selbstmachen.“
Fazit: Auch wenn die Veranstaltung mit wenigen Hundert Teilnehmern in vergleichsweise kleinerem Rahmen stattgefunden hat, hat sie großes Potenzial. Denn zum einen spricht sie mit den Freien, Freelancern und Selbstständigen eine spitze und ansonsten auf Events unterrepräsentiert adressierte Zielgruppe an und zum anderen ist die Mischung aus Soft- und Hardskill-Themen besonders wertvoll für das durchmischte Publikum.